USA - Teil 2
Nach dem ganzen Rummel brauche ich erst einmal eine Auszeit von der Auszeit. Biloxi in Mississippi ist da genau das Richtige. Kilometerlange, schneeweiße Sandstrände, Plamen und mehrere große Kasinos bieten Erholung und Nervenkitzel, je nachdem, was man gerade sucht. Im Hard Rock Café komme ich mit meiner Kellnerin ins Gespräch. Sie sieht, dass ich eine ganze Weile über meinem Reiseführer brüte, weil ich gerade überhaupt keine Idee habe, wo ich die nächsten Tage verbringen will. Sie schwärmt von Savannah, Georgia. Da wollte sie schon immer einmal hin, weil es dort sehr schön sein soll, aber bis jetzt ist sie einfach nicht dazu gekommen. Da ich im Gegensatz zu ihr alle Zeit der Welt habe, biete ich ihr an, dass ich mir Savannah für sie angucke.
Auf dem Weg nach Georgia verbringe ich einen Tag in Tallahassee, der Hauptstadt Floridas. Eine Busfahrerin warnt mich, dass Tallahassee eine schrecklich hohe Verbrechensrate habe. Sie fühle sich sehr unsicher, und das will etwas heißen, schließlich kommt sie aus New York. Einigermaßen verängstigt drücke ich meine Kameratasche noch fester an mich und schaue erst einmal rechts und links über die Schulter. Die Luft scheint rein zu sein und ich sehe mich im Capitol Complex und auf dem Campus der Florida State University um. Sehenswert ist auch die Adam Street, die links und rechts von den für die Südstaaten typischen Live Oaks mit Spanish Moss gesäumt wird, und wo diverse „erste“ Kirchen (First Presbyterian Chuch, First Baptist Church usw.) stehen. Als die Sonne untergeht, kehrt die kurzfristig verdrängte Furcht vor der potenziellen Viktimisierung zurück. Doch bei näherer Betrachtung ist Tallahassee nach 18:30 Uhr absolut tot. Nichts rührt sich, keiner da, die Bordsteine sind hochgeklappt. Ich will nicht an den wohlmeinenden Worten der Busfahrerin zweifeln, aber wer soll denn hier bitte überhaupt Verbrechen begehen, es ist doch gar keiner da?! Vielleicht bezieht sich die Statistik ja in erster Linie auf Parktickets und häusliche Gewalt. Das sähe den Politikern und Bürokraten zumindest ähnlich.
Ich bin mittlerweile in Savannah, Georgia angekommen, und habe damit die USA einmal komplett von der Westküste an die Ostküste durchquert. Georgia ist mein zehnter und letzter Staat auf dieser Tour, und er wird mir dauerhaft in Erinnerung bleiben. Schon kurz nach dem Überqueren der Staatsgrenze steigt mir ein merkwürdiger Geruch in die Nase. Ich weiß nicht, ob es die Gewässer oder irgendwelche abstrusen Pflanzen sind, aber Georgia riecht nach Bockwurst! Man könnte meinen, irgendwo sei ein Tanklaster mit Wurstwasser havariert. In den anderthalb Stunden, dich ich bis zum Hotel brauche, kann ich nur ans Fressen denken, und das Erste, was ich nach dem Auspacken mache, ist einen riesigen Chili Cheese Dog zu verdrücken. Danach sind meine Sinne dann auch für die Reize Savannahs empfänglich. Savannah wird auch die „Southern Belle“, also die Südstaatenschönheit genannt, und das ganz zu Recht, wie ich finde. Die Altstadt aus dem 18. und 19. Jahrhundert ist eine der größten der USA und weitgehend ursprünglich erhalten. Noble Antebellumhäuser werden von Palmen und Eichen beschattet, die Straßen sind teilweise noch kopfsteingepflastert und insgesamt 22 kleine Parkanlagen, die der Stadtgründer ursprünglich als öffentliche Versammlungsplätze konzipiert hatte, machen den besonderen Charme der Stadt aus. Unzählige Brücken und Treppen führen von der Bay Street hinunter zur River Street. Am Ufer des Savannah River liegen Schaufelraddampfer, die allabendlich zur Dinner Cruise ablegen. Auf der River Street und dem Factors Walk, dem ehemaligen kommerziellen Zentrum der Stadt, findet sich eine reizvolle Mischung aus Restaurants, Café und Souvenir- und Süßigkeitengeschäften, die in den alten Lagerhäusern untergekommen sind. Hier lässt es sich aushalten, und ich könnte gut und gerne noch ein paar Tage bleiben. Doch ich muss weiter, denn eines der absoluten Highlights der Tour wartet schon auf mich…
Vom 4. bis zum 13. März 2016 findet in Daytona Beach bereits zum 75. Mal die Bike Week, das größte Motorradevent der USA, statt. Viele tausend Harleys knattern lautstark aus allen Himmelsrichtungen nach Daytona Beach, und ebenso viele werden auf Anhängern oder Pickups ins Mekka der Motorsportverrückten verfrachtet. An mehreren „Hot Spots“ in der Stadt, u.a. am berühmten Daytona International Speedway, wird gefeiert, getanzt, getrunken und Radau gemacht. Ganze Straßenzüge sind gesperrt und dürfen nur von Motorrädern befahren werden. Hunderttausende Menschen stehen am Straßenrand und grüßen und fotografieren uns Biker, diverse Hersteller von Motorradzubehör und -bekleidung bieten ihre Waren an, und sämtliche Geschäfte der Stadt springen auf den Hype auf und verkaufen neben dem üblichen Krimskrams mehr oder weniger offizielle T-Shirts, Sticker, Aufnäher und Kappen mit Motiven der 75. Bike Week. „Talk shit, spit blood“, „Eat more pussy, it is good for you“ und ähnliche Weisheiten werden in zweifelhafter Qualität auf die Textilien gedruckt. Jeder, der ein Grundstück besitzt, vermietet Parkplätze. 5 Dollar für ein Motorrad, 10 Dollar für ein Auto; näher am Zentrum des Geschehens sind die Preise höher. Man hat den ach so bösen Biker als salonfähigen, zahlungskräftigen Konsumenten entdeckt. Allerdings wittern auch ein paar Strafverteidiger Kundschaft und haben Werbestände aufgebaut. Die Rennleitung hat alle Hände voll zu tun, den Verkehr zu regeln und im Großen und Ganzen den Anschein von Ordnung zu wahren. Die meisten Polizisten nehmen es mit Humor, und einige scheinen sogar Spaß an dem Spektakel zu haben. Doch ein Hilfssheriff von der Stadtpolizei, der zum Spott aller Biker auf einem E-Bike (!) und im Fahrradtrikot seinen Dienst verrichten muss, ist not amused. Immer wieder ruft er Rowdies zur Ordnung, wenn diese allzu lautstark den Hahn spannen. Das hat natürlich einzig und allein zur Folge, dass noch mehr Herren noch stärker im Stand am Kabel ziehen. Der gute Mann wird heute Abend, wenn er daheim seinen Fahrradhelm in die Ecke feuert, sicher seine Frau (oder wohl eher seine Mutter) zusammenscheißen, und irgendwelche Zitate aus Polizeifilmen der 80er Jahre zum Besten geben („Ich bin zu alt für den Scheiß“).
Neben unzähligen Harleys sieht man auch ein paar Indians und Victorys, diverse japanische Sportmotorräder mit absurd verlängertem Radstand und unfassbar breiten Reifen, um auf der Viertelmeile ordentlich Eindruck zu schinden, und zwei R 1200 GS. Ja, neben mir hat sich tatsächlich noch ein Klapphelmträger auf einer GS, und sogar mit neongelber Textiljacke, unters tätowierte, ohne Helm - und teilweise sogar ohne Oberbekleidung - fahrende Volk gemischt. Als Zeichen der Verbundenheit nicken wir einander zu. In den Bars gibt es schon mittags Livemusik, im Dirty Harry’s und einigen anderen Läden finden mehrmals am Tag Wet T-Shirt Contests statt, und die Gerstenkaltschale fließt in Strömen. Es ist teilweise ohrenbetäubend laut und ich fürchte, dass mein Gehör möglicherweise dauerhaft Schaden genommen hat. Es hat aber auch sein Gutes, denn als ich am Sonntag gegen Mitternacht diese Zeilen schreibe, höre ich die amerikanischen V2, die ohne DB-Eater direkt vor meinem Hotel auf und ab fahren oder Burnouts machen, nur ganz entfernt wie durch Dämmwolle.
Am Daytona International Speedway, auf dem normalerweise die NASCARs mit aberwitzigem Tempo im Kreis fahren, dreht sich in dieser Woche ebenfalls alles nur ums Motorrad. Den größten Aufwand treibt wieder einmal Harley Davidson. Neben Probefahrten mit der gesamten aktuellen Modellpalette kann man sich durch die Bekleidungskollektion wühlen, Zubehör begutachten, bei der Harley Owners Group (HOG) vorstellig werden, um sich das „Life Member“ Abzeichen auf die Lederweste tackern zu lassen, und an der „Wall of Death“ sowie auf einem abgesperrten Parcours zeigen professionelle Stuntfahrer ihr Können. Die Wall of Death ist eine Steilwand, an der zwei junge Burschen freihändig auf und ab fahren und dabei Geldscheine von Zuschauern entgegennehmen, die diese über den Rand der Steilwand strecken. Beeindruckend ist auch die „police bike demonstration“, bei der ein Topfahrer mit dem Modell, das die Polizei in den USA fährt, demonstriert, was mit so einem Dickschiff möglich ist. Es ist unfassbar, wie agil und wendig ein solcher Brocken ist, wenn man nur weiß, wie es geht. Der Parcours wäre mir selbst mit einem Kinderfahrrad zu eng, doch hier fliegt vor meinen Augen eine 400 kg Harley mit quietschenden Reifen und schabenden Fußrasten um die Kurven. Und anschließend wird dann mit Freiwilligen aus dem Publikum geübt, wie man so ein Teil wieder aufhebt, wenn man es, z.B. an der Ampel, unfreiwillig auf die Seite gelegt hat, weil die Gravitation mächtiger war als das Fahrkönnen.
Nebenan stellt Polaris mit Indian und Victory seine Motorradsparte aus. Auch hier gibt es Probefahrten und ein wenig Bekleidung. Doch Polaris geht einen anderen Weg als Harley Davidson: Hier wird nicht die Vergangenheit beschworen, sondern nach der Zukunft gegriffen. Beide Marken demonstrieren, dass amerikanische V2 durchaus modern und leistungsstark sein können. Dementsprechend wird bei der Fahrvorführung von Victory der Kraftaspekt in den Vordergrund gerückt: Zwei Buben wheelen mit den neuen Modellen quer über den Platz, drehen mit qualmenden Reifen Kreise um den Moderator und halten mit hoher Geschwindigkeit auf das (hinter einer Absperrung stehende) Publikum zu, um dann im letzten Moment mit wimmernden Pneus fotogen zum Stillstand zu kommen.
Europäische Anbieter sind nicht vertreten, doch die Japaner sind alle da. Honda hat ein recht großes Areal, wohingegen es bei Suzuki, Kawasaki und Yamaha etwas bescheidener zugeht. Das Besucherinteresse an den japanischen Ständen hält sich jedoch - genau wie das dortige Unterhaltungsangebot - in sehr engen Grenzen. Bei Yamaha steht das Weltmeisterbike von Jorge Lorenzo aus dem letzten Jahr, doch niemand interessiert sich dafür. Ich hätte gerne ein Foto von mir neben der Maschine (wie ich eine neongelbe 46 küsse), doch es ist schlichtweg niemand da, dem ich meine Kamera in die Hand drücken könnte.
Nach 30 Tagen geht diese wunderbare Motorradtour zu Ende, und mit ihr auch bald meine Reise rund um den Globus. 3.738 Meilen oder 6.014 Kilometer haben die GS und ich gemeinsam zurückgelegt. Wir sind durch 10 Staaten gefahren, haben viel gesehen und viel erlebt. Als ich die BMW in Miami abgebe fühle ich mich merkwürdig, irgendwie leer und wie ein Verräter. Während die GS bei 30 Grad in der Sonne parkt und darauf wartet, gewaschen, neu bereift und wieder vermietet zu werden, schlüpfe ich schleunigst in Shorts und Turnschuhe. Gestern habe ich Neringa in Fort Lauderdale vom Flughafen abgeholt. Ab hier machen wir gemeinsam noch knapp zwei Wochen Urlaub in Florida, ehe mich der Alltag wieder aufsaugt. Damit der Umstieg nicht allzu schwerfällt, entscheide ich mich im letzten Moment gegen die Vernunft und gegen den Toyota Prius Hybrid, und stattdessen für einen weißen 2016er Ford Mustang mit einem V6. Aircondition einschalten, Musik aufdrehen – Key West, wir kommen!
Diese Reise – und insbesondere die Motorradtour quer durch die USA – ist das Beste, was ich jemals gemacht habe. Das Salz in der Suppe waren die Menschen, die ich unterwegs kennengelernt habe. Ich habe nicht die „lange Reise zu mir selbst“ gemacht, und ich komme auch nicht als „jemand anders“ zurück (auch wenn der eine oder andere dies vielleicht für wünschenswert gehalten haben mag). Aber ein bisschen etwas gelernt habe ich unterwegs dann doch: Die Welt ist groß, bunt und schön, und die allermeisten Menschen, die in ihr leben, sind sehr freundlich und hilfsbereit. Wir sollten hin und wieder ganz bewusst innehalten und den Umstand genießen, dass wir an alledem teilhaben dürfen, statt uns von den alltäglichen, unvermeidlichen kleinen Ärgernissen die Laune vermiesen zu lassen. Nachdem ich jeden meiner Berichte von meiner kurzen Weltreise mit einem Zitat aus der Musikwelt eingeleitet habe, ist es nur konsequent, auch das Resümee meiner dreimonatigen Auszeit mit den Worten eines zeitgenössischen Chansonniers zu ziehen:
„Anywhere I roam, where I lay my head is home. Carved upon my stone: My body lie but still I roam“.
(Metallica, "Wherever I may roam")