Hongkong
„I'm dying to breathe in every moment, I'm dying to make up for lost time […], I'm dying to start this whole thing over, I'm dying to see with brand new eyes.”
(Scott Stapp, „Dying to live“)
Vorfreude ist die schönste Freude, sagt der Volksmund. Wenn das Volk recht hat, könnte man meinen, ich habe den besten Teil meiner dreimonatigen Auszeit bereits verpasst. Denn zwischen der hektischen Betriebsamkeit im Büro zum Jahresende, dem Weihnachtsrummel und der beschwerlichen Anreise war kein Platz für Vorfreude. Und nun, nach drei Spielfilmen, zwei Mahlzeiten und einer schlaflosen Nacht, spuckt uns der Airbus A380 bereits in Hongkong aus.
Als ich das einleitende Zitat ausgewählt habe, hatte ich keine Ahnung, wie sehr die Worte von Scott Stapp auf diesen Teil der Reise zutreffen würden, und nicht etwa nur im übertragenen Sinne. Breathe in every moment? Das Atmen fällt uns verwöhnten Europäern schwer, die stinkende, abgasgeschwängerte Luft in Hongkong brennt in den Lungen. Wenn wir abends im Hotelzimmer vor der weißen Wand husten, kann man zusehen, wie sich die Rußpartikel in dunklen Wölkchen ihren Weg aus unseren Lungen ins Freie bahnen, und meine Popel sehen aus wie Briketts (ich meine die Farbe, nicht die Größe oder Form). Und make up for lost time? Der chronische Schlafmangel und die Zeitverschiebung von plus sieben Stunden bringen den Organismus gehörig aus dem Tritt. Zur Schlafenszeit bekommen wir partout kein Auge zu, und morgens sind wir völlig gerädert. Unsere Versuche, den Körper in den ungewohnten Rhythmus zu zwingen, scheitern kläglich. Als ich nachmittags total entkräftet unfreiwillig wegnicke, fällt meiner grundguten aber verantwortungslosen Gattin nichts Besseres ein, als sich einfach dazuzulegen und seelenruhig drei Stunden zu schlafen, bis sie von meinen panischen Ausrufen (hier die jugendfreie Version: „Auweia! Uiuiuiuiui…“) geweckt wird.
Klingt so, als hätten wir keinen Spaß? Weit gefehlt! Hongkong ist eine quirlige, auf- und anregende Metropole voller Kontraste, die uns immer wieder in Erstaunen versetzt. Wir sehen uns alte und neue Tempel an, erkunden die Häuserschluchten von Kowloon und die Markenboutiquen in Tsim Sha Tsui, bestaunen die Skyline von Central, stöbern in traditionellen Geschäften in Mong Kok, essen statt in Touristenenklaven in kleinen Lokalen mit den Einheimischen, die aus den Augenwinkeln beobachten, was wir bestellen und wie wir die Essstäbchen halten, fahren bei Sonnenuntergang die endlosen Serpentinen hinauf zum Aussichtspunkt auf dem Victoria Peak und genießen laue Abende an der Hafenpromenade.