Tirol 2015
"Nur wo du zu Fuß warst, bist du auch wirklich gewesen."
(J.W. von Goethe)
Ob Goethe es auch gelten lässt, wenn man mit dem Motorrad irgendwo hinfährt und dann vor Ort herumläuft, ist leider nicht überliefert. Jedenfalls haben wir genau das Anfang September vor. Endurowandern mal anders, nämlich mit der Enduro in den Wanderurlaub, und zwar nach Tirol. Auf dem Hinweg stoppen wir für eine Nacht zum Baden in Baden-Baden, um uns für viel Geld davon zu überzeugen, ob die Stadt wirklich so mondän ist, wie gemeinhin kolportiert wird. Immerhin relaxten schon die alten Römer in den heißen Thermalquellen, und Fjodor Dostojewski holte sich in der Spielbank Inspiration für seinen Roman "Der Spieler". Und siehe da: Baden-Baden ist tatsächlich erheblich eleganter als z.B. Frankfurt, wie der nachfolgende Vergleich der jeweiligen Trinkhallen veranschaulicht.
Bei 30 Grad im Schatten schleppen wir uns durch das Städtchen und machen hier und da ein paar Fotos, aber der Entdeckergeist will sich nicht so recht einstellen. Es zieht uns in die Berge und wir haben das Gefühl, dass der Urlaub eigentlich erst morgen los geht.
Unser Basislager ist Längenfeld im Ötztal, wo wir uns im Naturhotel Waldklause einquartiert haben. Das Haus ist eine Top-Adresse für Erholungssuchende. Neben Dreiviertelpension mit fürstlichem 5-Gang-Menü am Abend bietet es allerlei Annehmlichkeiten für Wanderer, einen großen SPA-Bereich, einen Fitnessraum und - beinahe am wichtigsten - eine Garage fürs Motorrad. Praktisch ist auch, dass im Zimmer Bad und WC getrennt sind, weil meine grundgute Gattin im Bad morgens gerne einmal etwas länger braucht und ich dann eben solange "einhalten" muss. Dass die Toilette aber nur durch eine Schiebetür aus Milchglas vom Wohnbereich abgegrenzt ist, stellt unsere noch junge Ehe gehörig auf die Probe. Denn schließlich wird man so unfreiwillig Zeuge, wie der Partner ganz entspannt durch den Enddarm ausatmet.
"Wellness und Wandern" war die Devise, die Neringa für diesen Urlaub ausgegeben hatte. Doch als wir sehen, wie unglaublich liebevoll die Tiroler Straßenmeisterei das Asphaltband über die Bergrücken drapiert hat, wollen wir erst einmal ein paar Kurven schnupfen. Zunächst geht es über Ischgl und Galtür zur Silvretta-Hochalpenstraße, die Tirol mit dem Vorarlberger Montafon verbindet. Auf der Bielerhöhe auf etwa 2.030 m liegt der Silvrettasee, wo wir zum Mittagessen Halt machen. Das Bollern unseres Motorrads lockt eine Kuh an, die mich aufdringlich beschnuppert und anmuht. Als sie jedoch merkt, dass ich nichts Essbares dabei habe, verfliegt ihr Interesse an meiner Person auch gleich wieder. So kann ich wenigstens ungestört den Ausblick auf die Tiroler Berglandschaft genießen.
Die nächste Tour führt uns am anderen Ende des Ötztals auf das Timmelsjoch, das die Grenze zu Italien markiert. Die KTM geht wie Sau und zwischen den Kehren frohlocke ich in den Helm ob des landschaftlichen und straßenbaulichen Hochgenusses. Wenn man mit einer KTM in der Alpenrepublik unterwegs ist, kommt einem zwangsläufig der REITWAGEN in den Sinn. Das österreichische Fachblatt zeichnet sich dadurch aus, dass die Herren Redakteure praktisch jedes Fahrzeug, von der Gold Wing bis zum Krankenfahrstuhl, überwiegend auf einem Rad bewegen, wobei des öfteren auch etwas zu Bruch geht. Bei der Schilderung ihrer Fahreindrücke bedienen sie sich gerne einer martialischen Ausdrucksweise. Da wird "gerichtet", "vollstreckt" und "hergebrannt". Erst hier und jetzt wird mir die Bedeutung dieser Begriffe bewusst. In den Serpentinen richte und vollstrecke ich, was das Zeug hält, schieße mit gelupftem Vorderrad an ganzen Fahrzeugkolonnen vorbei, nur um die Fuhre dann vor der nächsten Kehre wieder gehörig zusammenzubremsen und abzuwinkeln. Sollte ich dabei versehentlich auch den einen oder anderen von Euch hergebrannt haben, bitte ich um Verzeihung.
Gut mit dem Motorrad zu erreichen ist auch der Piburger See. Der kleine Bergsee liegt auf ca. 900 m in der Nähe des Dorfs Oetz. Im Sommer wird er über 20 Grad warm. Der Chef des nahegelegenen TOURENFAHRER Partnerhotels Seerose hat Mitleid mit den behelmten Wandersleuten und bietet uns an, unsere Motorradklamotten zu verwahren, während wir um den See schlendern.
Ganz schlecht mit dem Motorrad zu erreichen ist hingegen der Gaislachkogel. Um auf den Gipfel des 3.058 m hohen Berges zu gelangen, nimmt man am besten die Seilbahn von Sölden aus. Oben angekommen bietet sich dem staunenden Flachländer ein atemberaubendes Panorama. Diesmal sind wir froh, dass wir die Motorradklamotten bei einer Wanderung dabei haben, denn hier oben liegt Schnee, es sind 2 Grad minus und ein schneidender Wind sorgt binnen Minuten für Frostbeulen an Wangen und Händen. Auch der Akku von Neringas iPhone geht nach wenigen Fotos in die Knie, obwohl er kurz zuvor noch reichlich Saft hatte. Zum Aufwärmen kehren wir im Ice Q ein. Das Restaurant am Gipfelkreuz war jüngst Schauplatz bei den Dreharbeiten zum kommenden James Bond-Streifen "Spectre". Trotz der Monopolstellung vor Ort halten sich die Preise im Rahmen, und mit reichlich Kaffee und Tee im Bauch machen wir uns wieder auf den Weg. Von der Mittelstation auf "nur" 2.170 m wandern wir zur Gampe Thaya, einer Almwirtschaft, die deftige Hausmannskost auftischt. Ich labe mich an einer Trilogie vom Tiroler Knödel, bestehend aus Käs'knödel, Speckknödel und Spinatknödel. Solchermaßen gemästet spüre ich, wie die Gravitation an mir zerrt. Der anschließende Abstieg nach Sölden geht fast wie von selbst, ich muss nur "laufen lassen" und irgendwie auf den Beinen bleiben. Die etwa 800 Höhenmeter im Abstieg auf einem steilen Steig gehen jedoch nicht spurlos an uns vorüber. Schon bald fangen die Waden und Knie an zu zwicken. Noch am selben Abend setzt ein infernalischer Muskelkater ein, der uns über mehrere Tage quälen wird. Würde man heute mein biologisches Alter bestimmen, wäre ich im Kopf (unverändert) zwölf und in den Beinen 104. Auch Neringa bewegt sich nicht mehr mit der katzenhaften Geschmeidigkeit, durch die sie sich sonst auszeichnet.
Als das Wetter sich vorübergehend verschlechtert, nutzen wir die Zeit zum Faulenzen am Pool und für Wanderungen in der näheren Umgebung. Auf dem During Panoramaweg können sich Schwindelfreie auf die frisch renovierte Teufelskanzel wagen, die über den Abgrund ragt, und auf dem Weg von der Brandalm nach Burgstein sorgt eine Hängebrücke über die Schlucht für schlotternde Knie.
Wem mache ich eigentlich noch etwas vor?! Ich habe in Tirol offenbar eine handfeste Knödelabhängigkeit entwickelt. Ich kann von nichts anderem mehr reden, träume sogar nachts davon, und bin gerade total "auf Turkey". Um mir Linderung zu verschaffen, fahren wir nochmals auf den Gaislachkogel, dessen Namen Neringa sich partout nicht merken kann und den sie beharrlich "Gugljoch" nennt. Nach einer zünftigen Portion Käs'knödel in der Tirolerstube satteln wir wieder das Motorrad und fahren über die Ötztaler Gletscherstraße, die höchste Straße in der EU. Sie führt bis zu einem Aussichtspunkt auf 2.798 m, von dem man den Rettenbachgletscher bewundern kann, an dem im Winter der Ski-Weltcup ausgetragen wird. Durch den Rosi-Mittermaier-Tunnel geht es weiter zum Tiefenbachgletscher. Auf dem Rückweg übersehe ich im Dunkel des Tunnels beinahe eine mehrere Meter lange Vereisung auf unserer Spur, die sich durch das von der Tunneldecke tropfende Wasser gebildet hat. Wenn Neringa mich nicht rechtzeitig gewarnt hätte, müssten wir die Heimreise wohl mit dem ADAC antreten - oder mit dem Rettungshubschrauber...
Wieder einmal hatten wir einen erholsamen und abwechslungsreichen Urlaub in den Bergen. Dass wir wiederkommen werden steht außer Frage. Unsere KTM ist allerdings im Moment etwas verschnupft, weil sie gemerkt hat, dass es dieses Jahr wohl nicht mehr über die 860 m auf dem heimischen Feld-"berg" hinausgeht. Unterforderung kann eben auch stressen...