Weimar 2013
„Die beste Bildung findet ein gescheiter Mensch auf Reisen".
(Johann Wolfgang von Goethe)
Als wir Anfang September an einem Freitagnachmittag mit unserer GS auf die Autobahn auffahren wird uns bald bewusst, dass der von Goethe angesprochene gescheite Mensch seine Reise wohl nicht an einem Freitagnachmittag auf der Autobahn beginnen würde. Denn dort befinden sich zu dieser Zeit schon ziemlich viele andere, mehr oder minder gescheite Menschen. Und so quälen wir uns von Frankfurt aus gen Nordosten in der Hoffnung auf ein wenig Bildung. Hierfür gibt es kaum einen besseren Ort als Weimar: Das beschauliche Städtchen mit ca. 65.000 Einwohnern ist Teil des UNESCO Weltkulturerbes und atmet Geschichte an jeder Ecke. Hier wurde nach dem Ersten Weltkrieg die wenig glückliche Weimarer Republik gegründet, und zuvor lebten und arbeiteten Größen wie Goethe, Schiller, Nietzsche, Wagner und Liszt in der Stadt. Goethe und Schiller waren offenbar dicke Kumpels, denn sie treten in Weimar fast ausschließlich im Doppelpack auf, so z.B. beim Goethe-Schiller-Denkmal oder im Souvenirhandel, und sie teilen sich sogar noch die letzte Ruhestätte in der Fürstengruft auf dem sehenswerten Historischen Friedhof. Der Marktplatz, das Rathaus, die Wohnhäuser von Goethe und Schiller (zu meiner Überraschung lebten sie nicht etwa in einer WG, sondern hatten getrennte Häuser), das Nietzsche Archiv, Pferdekutschen auf dem holprigen Kopfsteinpflaster und Menschen in historischen Gewändern versprühen das Flair einer längst vergangenen Zeit.
Der Rokokosaal der Herzogin Anna Amalia Bibliothek, der 2004 bei einem Brand in Mitleidenschaft gezogen wurde, ist zwar mittlerweile grundsätzlich wieder für den Publikumsverkehr geöffnet. Wir sind jedoch leider etwas zu spät, nämlich ungefähr eine Woche. Denn die Zahl der Besucher ist auf 250 pro Tag begrenzt, und die Tickets für Samstag sind längst ausverkauft, als wir dort ankommen. Da hilft kein Bitten und Betteln, die Dame am Ticketschalter bleibt hart und weist uns den Weg nach draußen. Dafür kann ich im Nietzsche-Archiv die „Schreibkugel“ bestaunen, mit der der schnauzbärtige Übermensch und Pferdefreund (möglicherweise) seinem Zarathustra die berühmten Worte in den Mund legte.
Auf dem Weg zum Hotel entdecke ich ein Feld, auf dem die Bauern ihre Strohballen derart liebevoll drapiert haben, dass ich zum Fotografieren anhalten muss. Als ich die Kamera auspacke, treffe ich einen Gleichgesinnten, der dieselbe Idee hatte und gerade sein Stativ zusammenklappt. Nach einer kurzen Fachsimpelei schieße ich in der Abendsonne auf dem Feld fast so viele Fotos, wie zuvor in der Stadt. Ich robbe über den Acker, klettere auf Strohballen und auf einen Hochsitz. Anschließend sehe ich aus, als hätte ich mich an einem verregneten Grand Prix Wochenende im Kiesbett des Lausitzrings gesuhlt. Abends bestelle ich Thüringer Bratwürste und bin etwas irritiert, als ich keine langen, dünnen Würste bekomme, sondern eher ganz gewöhnliche. Aber wenn ich auf dieser Reise eines gelernt habe, dann dass ein gescheiter Mensch nach solch einem lehrreichen Tag keinen Streit über die Form von Bratwürsten anfängt...